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5.1 Die Auflösung der Ich-Perspektive


Die Veräußerung der Ich-Perspektive:
Empfindung als audiovisuelle Komposition


Wenn Leo ihren Kopf dann aus der Wanne hebt, in der sie sich in voller Bekleidung geduscht hat, ist das, bei aller komischen Anspielung auf wiederkehrende Tote, ein Bild extremer körperlicher Erschöpfung. Die Darstellung der inneren Welt ist ganz zum Bild eines physischen Zustands geworden. Der Ausdruck dieses Zustands, der Schmerzensschrei, ist – wie die Stimmen am Telefon – von diesem Körper getrennt.


Er kommt aus dem Fernsehen. Leo hat sich in eine Bar geflüchtet; über ihr an der Wand ein Monitor, in dem der "lustige Schreiwettbewerb" zu sehen ist, zu dem Ángel sie am Vortag eingeladen hatte, um erneut einen Korb zu bekommen. Auch das Lied, in dem das Leiden Leos seine stereotype Formel findet, ist ihr als ein von ihrem Körper getrenntes, artifizielles Sentiment, als ein Bild im Bild zur Seite gestellt. Wir sehen im Fernsehen eine ältere Sängerin, die sich zu Leo gesellt wie die Stimme der Mutter auf dem Anrufbeantworter.




Bildreihe aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995


Zug um Zug löst die Inszenierung die melodramatische Urszene in ihre Elemente auf. Sie entfaltet stattdessen ein Verweissystem, das sich nicht mehr von der Bildoberfläche ablösen lässt: so als sei die Innerlichkeit des empfindsamen Ich in einem perspektivischen Prisma ineinander sich spiegelnder Ich-Ansichten nach außen gestülpt, ganz zur sichtbaren Oberfläche geworden – Töne, die nur noch auf Töne, Bilder, die auf Bilder verweisen, Stimmen, Körper, Farben, geometrische Formen, die nurmehr anderen Formen entsprechen... Das ist keineswegs eine Strategie ironischer Distanzierung.8 Denn die musikalischen und visuellen  

Kompositionen zielen durchaus auf das Empfinden sentimental begabter Zuschauer. Aber dieses Empfinden fügt sich als solches, als ein sich selbst gegenwärtiges ästhetisches Genießen, als eine weitere perspektivische Spiegelung in die Figurenkonstruktion ein. Für die Zuschauer ist der Schmerz stets ein Artefakt, eine audiovisuelle Komposition, die der Film aus den melodramatischen Phrasen herauslöst. Für sie ist der Schmerz immer ein Lied, ein kunstvoll inszenierter Schrei, das genau kalkulierte Bild einer gekrümmten Frau in Rot. Sie betrachten die Figur immer schon aus einem Blickwinkel, der außerhalb der Binnenperspektive der Figur liegt. 


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LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995 (62. bis 66. Minute)

Ist der Mantel königsblau, befindet sich Leo in einem Meer von Schmerz. Begegnet ihr dann ein Mantel in braun abgetöntem Rot, der sie in seinen Armen umfängt und hält, inmitten eines tosenden Meeres hin- und herwogender weißer Kittel und schwarzer Haarschöpfe, ist sie in ihrer ganzen schmerzhaften Verlorenheit gerettet.






Mühelos folgen wir der Logik des Weiß, das sich von den Kitteln der protestierenden Medizinstudenten ablöst, um als dichter Regen weißer Flugblätter vom blauen Himmel auf die Stadt niederzugehen: ein wirbelndes Geflirre, in dem die Metaphern von Schneegestöber und fallendem Herbstlaub so zwanglos miteinander verschmelzen wie die schwebende Kamera mit dem Lied, das jetzt zu hören ist: Dessen wichtigste Textzeile ist im Film schon mehrfach angesprochen worden – "Wenn in mir nur Schmerz und Leben ist, dann, Geliebter, lass mich nicht länger leben."

Auch an dieser Stelle, wenn genau auf der Höhe melodramatischer Schmerzdarstellung unvermittelt ein schroffer Kontrapunkt gesetzt wird, sollte man nicht voreilig von ironischer Distanzierung sprechen. Denn in dem Schwenk, mit dem uns die Kamera aus dem Schneegestöber unter einen blauen Sommerhimmel reißt – wir sehen den Schriftzug des Kulturkaufhauses Fnac und, über die Front eines mittleren Skyscrapers plakatiert, die Werbung für den neuen Amanda-Gris-Roman –, sind zwei gegensätzliche Beziehungsmodelle miteinander verbunden.



Das Figurengefüge:
symmetrische Spiegelkonstruktionen

Das wird klar, wenn man sich die symmetrischen Spiegelkonstellationen vor Augen führt, mit denen der Film sein relationales Figurengefüge etabliert. Als wären es standardisierte Studio-Designmodelle, sind zwei Typen von Fernsehfamilienserien einander gegenübergestellt:


Da sind zum einen Mutter und Schwester von Leo, die Sitcom einer kleinbürgerlichen Trashfamilie schlagfertig-zänkischer Frauen, gekleidet in die schmutzigsten Mischfarben übereinandergeschichteter Pullis, Jäckchen und Kittel.


Zum anderen der gutbürgerliche Haushalt, in dem alle Farben und Formen sauber getrennt, in dem alles gerahmt und wohlgeordnet ist; mit Leo als nervöser Hausherrin mit Alkoholproblemen und Blanca (Manuela Vargas) als fürsorglicher Haushälterin, die mit ihrem Sohn Antonio (Joaquín Cortés) Flamenco tanzt.







Bildreihe aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995

Vor diesem Hintergrund versteht man auch die andere Spiegelung, die von Paco und Ángel: Ángel, der mit den gedämpften Farbtönen verbunden ist und noch dem Flamenco die kantige Schärfe nimmt, wenn er betrunken zu tanzen beginnt; und Paco, dem die scharfen Trennungen rechteckiger Rahmung zugeordnet sind und der mit dem Telefonspiel, das er perfekt beherrscht, Leo mit seiner Abwesenheit umzingelt. Wir verstehen nicht nur, warum Ángel mühelos weibliche

Liebesphantasien zu schreiben weiß, sondern auch, warum er das satte Rot mit Gelb abtönt, als sei seine Wohnung ein Hort der Freundlichkeit. Mit diesen Farben korrespondiert eben nicht nur das etwas schmutzige Rot der hausbackenen Jacken und Pullover, das Ángel nach der ersten Begegnung mit Leo nicht mehr ablegen wird. Ihm entspricht auch eine Wohnung, in der alles, was normalerweise rechteckig ist, Fenster, Türen, Durchblicke, rund geworden ist. 


Bildreihe aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995


Gerade die offenkundige Affinität des Films LA FLOR DE MI SECRETO zur melodramatischen Poetik lässt deren Unterschiede zum Konstruktivismus Almodóvars deutlich hervortreten. Wo die poetische Logik des Melodramas in den audiovisuellen Darstellungen der Subjektivität eines empfindenden Ich Ausdruck zu geben sucht, betreiben diese Filme eine radikale Veräußerung all dessen, was dem Alltagsbewusstsein innere Befindlichkeit ist: Einerseits lösen sie die alltäglichen Ausdrucksformen innerlichen Empfindens (die Geste, den Schrei, das Gesicht) aus ihrem Bezug auf eine verschwiegene, unsichtbare Empfindung und machen sie zu Bausteinen perspektivisch zerlegter und vervielfältigter Beziehungsfigurationen; andererseits bilden die Kompositionen aus Licht und Farben, alltäglichen Gegenständen und grafischen Abstraktionen, Bewegungslinien, Rhythmen und Bewegungsfigurationen, Gesten und Erscheinungen eine Oberfläche der audiovisuellen Bildfigurationen, die den Wahrnehmungsvorgang des Zuschauers selbst transparent hält. Mal um mal wird sein Hören und Sehen auf diese Oberfläche der Komposition und damit auf sich selbst, auf den

Akt ästhetischer Wahrnehmung verwiesen. Das Filmbild tritt ihm als eine Komposition aus Farbe, grafischen Mustern, Collagen alltäglicher Gegenstände und Formen sich wiederholender Bildphrasen und Sentenzen entgegen, als eine visuelle Oberfläche, die ihm, gleich den Musik-Geräusch-Arrangements, zum komplexen Aggregat sich ihrer selbst gewahr werdender Wahrnehmungsempfindungen wird.

Mal um mal wird sein Sehen dergestalt als Selbstgegenwärtigkeit ästhetischer Wahrnehmung aus der Welt der Figuren ausgeschlossen, nur um im nächsten Moment erneut von der Erscheinungsweise dieser Welt eingesogen, in sie eingeschlossen zu werden. So vollzieht sich die Wahrnehmung des Zuschauers in einer beständigen Kippbewegung zwischen der barocken Ornamentalistik der Bildoberflächen und der unendlich sich perspektivisch teilenden und vervielfältigenden Gefühlswelt der Figuren. LA FLOR DE MI SECRETO durchquert die manichäische Ordnung sentimentaler Phantasie, den Gegensatz von mütterlicher Verschmelzungsliebe und phallischer Geschlechterliebe.


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LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995 (84. bis 86. Minute)

Da ist zum einen die Aufführung des Flamenco-Tanzes: Blanca, die den Kampf gegen ihren Sohn – des Rot gegen das Schwarz, der Linie gegen den Kreis – verliert; eine Frau im roten Kleid, gekrümmt auf dem Boden, verworfen von dem Sohn in Schwarz, der an der Rampe ein selbstverliebtes Solo zelebriert.



Da ist zum anderen das Dorf der Mutter, in das Leo nach ihrem Zusammenbruch zurückkehrt, die wundersame Verwandlung ihrer Mutter, die Frauen der Nachbarschaft, deren Gesang.

Es ist, als suche der Film sowohl aus den Phantasmen mütterlicher Liebe, wie aus denen der Geschlechterliebe, die soziale Dimension, das wechselseitige In-Beziehung-Treten

und In-Beziehung-Sein als Möglichkeit der Begegnung herauszupräparieren.

Der aufreibenden Ordnung des Flamenco – dem unendlichen Gegensatz von Rot und Schwarz, von Mann und Frau, von Stier und Matador – setzt der Film ein Prinzip der Imitation der Mutterliebe, ein Mütterlich-Werden des Chefredakteurs und ein Tochter-Werden der Schriftstellerin, entgegen.


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So gesehen ist LA FLOR DE MI SECRETO der Versuch, die Figurationen der mütterlichen Liebe aus den vorgefundenen melodramatischen Figuren und Konstellationen herauszulösen. Es ist, als vollziehe der Film selbst eine Passage, die der Landpartie von Mutter und Tochter gleicht: der Autofahrt, raus aus den ausfransenden Vorstädten, vorbei an fahlen Wiesen und ausgelaugten Feldern am Rande der Autobahnen, als müssten die von Spalieren von Strommasten zergliederten

Landschaften durchquert werden, um das Dorf wiederzufinden. Die Fahrt wird zur Bewegung einer Rückkehr, in der sich nicht nur der Blick auf die Ödnis der Landschaft verändert, sondern sich die Mutter zugleich von der zänkischen Alten in eine Sängerin verwandelt: Ihre enervierende Rede geht nach und nach in eine lyrische Rezitation über, mit der sie ihr Dorf besingt. Man sieht das in der Sonne ruhende Land, hört die Rufe, die Stimmen der Frauen...



Literaturangaben und Anmerkungen
8 Vgl. Mark Allinson: A Spanish Labyrinth. The Films of Pedro Almodóvar, London / New York 2001, S. 199-200.  [^]

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