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2.5 Der Körper der Schauspieler und die Zeit der Geste

Der Körper des Schauspielers als Ausdrucksfläche


Im psychologischen Schauspiel weist die Geste auf die physische Erscheinung des Schauspielers zurück und macht seinen Körper zur Ausdrucksfläche eines unsichtbaren inneren Geschehens. Seine Physiognomie und seine physische Präsenz bilden das Schnittfeld, in dem sich äußere Handlung und innere Bewegtheit verschränken. Dieser Typus Schauspieler lässt in der Gesamtheit seiner Äußerungen die Figur zugleich in zwei verschiedenen Darstellungsmodi entstehen: seine physische Erscheinung geht in die Erzählung als Protagonist der Handlung

ein und ist zugleich Beschreibung der Empfindung. Im Brechtschen Schauspielsystem ist die Artikulation der Schauspieler absolut getrennt von ihrer physischen Realität. Hier tritt an die Stelle der Illusion einer physisch präsenten Figur eine technisch-konstruktivistische Einheit. Die gestische Darstellung kann sich nicht mehr auf den Körper der Schauspieler als naturgegebene Einheit stützen; die gezeigten Gesten müssen von den Schauspielern erst zu einer Einheit verbunden werden. 


Das Schauspiel als konstruktivistische Einheit der Darstellungsform


Bei Brecht ist diese konstruktivistische Einheit als >Gestus des Zeigens der Schauspieler< gedacht. Dieser bezieht sich auf die Realität der Schauspieler selbst als Schauspieler. Brecht führt diesen Selbstbezug – neben den Gesten des Alltags und dem sozialen Gestus – als eine dritte Variante des Gestischen ein.

Es ist nötig, daß dem eigentlichen Spiel der Gestus des Aushändigens von etwas Fertigem unterliegt.
Den allgemeinen Gestus des Zeigens, der immer den besonderen gezeigten begleitet, betonen die musikalischen Adressen an das Publikum in den Liedern.
23

Die Stilisierungen des Schauspielens beschreiben nicht mehr die Figur, sondern differenzieren und trennen die Alltagsgesten von der Kunstform des sozialen Gestus. Sie umfassen als rhetorisches Gerüst der schauspielerischen Aktion die isolierten Gesten und Äußerungen, das Dargestellte, und schließen diese zu einer konstruktivistischen Einheit der Darstellungsform zusammen. Diese Einheit ist – im Unterschied zur illusionären Figur – von der physischen Präsenz der Schauspieler, der Integrität ihrer individuellen Körper vollkommen getrennt. In ein und demselben Zuge löst der Gestus des Zeigens die illusionäre Integrität von Schauspielerkörper und fiktionaler Figur auf und formuliert zugleich die Rahmung, mit der die Einheit der Figur als

symbolisches Konstrukt wieder hergestellt wird. Der Gestus ist damit aus dem Horizont mimetischer Darstellungsformen gelöst und zu einer Form des Erzählens geworden. Jedenfalls steht bei Brecht für die innere Logik der Konstruktion der Figur vermittelnd die Fabel ein.

Auf die Fabel kommt alles an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung. [...] Das große Unternehmen des Theaters ist die Fabel, die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge, [...] die das Vergnügen des Publikums nunmehr ausmachen sollen.24

Bedeutet dies, dass die Figur nur Transporteur der Fabel und der Gestus nur ein Instrument, das narrative Alphabet des Erzählens ist? Auf den ersten Blick liegt dieser Schluss nahe, doch verbirgt sich in dem, was im epischen Theater Erzählen meint, ein subtiles theoretisches Problem. Zunächst aber wird man Brecht mühelos folgen, wenn er in der Fabel das Informationsmaterial des Schauspielers sieht. An der Fabel sind die widersprüchlichen Verhaltensweisen der erzählten Figur, die Logik ihrer gesellschaftlichen Beziehungen offenzulegen, um sie der Kritik des Zuschauers zu überantworten. Was aber bedeutet es, wenn Brecht die Fabel als >Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge< bezeichnet?


Die Zeit des sich entfaltenden Gestus


Die Bemerkungen zur Fabel folgen unmittelbar aus den Überlegungen zum Rollenstudium des Schauspielers. Im >Kleinen Organon< ist dieses Studium als Prozess der stufenweisen Aneignung der Figur durch den Schauspieler am Beispiel vom >Leben des Galilei< beschrieben: Der Schauspieler habe das Geschehen durchzugehen und von Etappe zu Etappe auf die äußerliche Haltung und das Verhalten der Figur zu achten. Er habe sich dabei zu fragen, welche Beziehungen das Geschehen erkennen lässt, welche Logik dem Verhalten der Figuren von Fall zu Fall eignet. Er durchschreitet also die lineare Zeit der Handlung und eignet sie sich als die Stufen des Hervortretens der Figur an. Von diesen in der Zeit der erzählten Handlung sich entfaltenden Beziehungen her habe sich der Schauspieler in der Figur ein rein gestisches Konstrukt zu erschließen. Brecht wird nicht müde zu betonen, dass diese Erschließung immer vom Ganzen des Geschehens aus zu erfolgen hat, also gegenläufig zur verstreichenden Zeit des Handlungsablaufs. Rhetorisch fragt er den Schauspieler:

[Das Stück] beginnt mit den morgendlichen Waschungen des Sechsundvierzigjährigen, unterbrochen durch Stöbern in

Büchern und eine Lektion für den Knaben Andrea Sarti über das Sonnensystem. Mußt du nicht wissen, wenn du das machen sollst, daß wir schließen werden mit dem Nachtmahl des Achtundsiebzigjährigen, den eben derselbe Schüler für immer verlassen hat? Er ist dann schrecklicher verändert, als diese Zeitspanne es hätte zuwege bringen können. Er frißt mit haltloser Gier, nichts anderes mehr im Kopf, er ist seinen Lehrauftrag auf schimpfliche Weise losgeworden wie eine Bürde, er, der einst seine Morgenmilch achtlos getrunken hat, gierig, den Knaben zu belehren.25 

Der Gestus hätte also das Vorher und Nachher einzuschließen, er hätte sich im achtlosen Trinken der Milch schon auf die Freßgier des verblödeten Greises zu beziehen. Darin geht die einzelne Geste in jedem Moment über den bloßen Ablauf des Geschehens hinaus und transponiert es in eine andere Zeitebene — in die Zeit des sich entfaltenden Gestus. Brecht beschreibt diese Zeit hier als die subjektive Dauer eines scheiternden Lebens. Man könnte auch sagen, er begreift in der Fabel eine gänzlich in Handlung veräußerte Innerlichkeit, eine Subjektivität, die in der gestalteten Zeit des Schauspiels für die Zuschauer sichtbar werden soll.


Die Fabel als Möglichkeitshorizont der Figur


Der Gestus bezieht sich dann auf die Konstruktion der Zeit des Sichtbar-Werdens der Figur, in der sich alle gestische Beziehung vermittelt. Er stellt eine zeitliche Einheit dar, die sich in jedem Moment der Aufführung realisiert und verändert. Jedenfalls kann diese Überlegung folgenden Satz verständlicher machen, dem sich zahllose ähnliche Bemerkungen anfügen ließen:

Solch gestisches Material auslegend, bemächtigt sich der Schauspieler der Figur, indem er sich der Fabel bemächtigt. Erst von ihr, dem abgegrenzten Gesamtgeschehnis aus, vermag er, gleichsam in einem Sprung, zu seiner endgültigen Figur zu kommen, welche alle Einzelzüge in sich aufhebt.26 

Der Gestus stellt eine zeitliche Komposition dar, die quer zur linearen Zeit der Erzählung steht und die Sukzession der Handlungen transzendiert. Er bildet ein Kompositum, zu dem sich die Fabel wie eine Partitur verhält. Sie formuliert keine zu erzählende Handlung, sondern entfaltet in diesem Erzählen einen Zeithorizont, der alle Beziehungen, Haltungen und Verhaltensweisen, welche die Figur konstituieren, als noch nicht eingetretene Möglichkeit, als ihr virtuelles Bühnensein


enthält. Die Fabel ist deshalb weder Erzählung noch Handlung, sondern beschreibt diesen Möglichkeitshorizont der Figur; sie beschreibt das Sein der Figur vor dem Erzählen und vor dem Handeln. Man könnte sagen, die Fabel beschreibt ihr Denkbarsein als eine Dramatis Personae im Theater des Alltagslebens der Zuschauer.

Gleichermaßen getrennt von der Bühnenpräsenz der Schauspieler wie von der Illusion der Figur, bezeichnet der Gestus eine zeitliche Korrelation, welche die Linearität des erzählten Geschehens durchbricht und die Figur in jedem Moment der Handlung auf ihren Möglichkeitshorizont bezieht. Er führt die Fabel zurück auf den Stand eines zur Handlung drängenden Subjekts, bevor dieses Subjekt in seinen Handlungen Wirklichkeit gewinnt. Im Letzten bezeichnet der Brechtsche Gestus diese zeitlichen Korrelationen; er versetzt die Figur in die Schwebe zwischen ihren Möglichkeiten und dem, was von diesen Möglichkeiten Realität wird. In diesem Sinne kann man Giorgio Agambens Erläuterungen zum Gestus lesen, der allerdings kein Wort über Brecht verliert, wenn er von dem Verlust der Gesten durch die Psychologie des bürgerlichen Subjekts spricht.27 Der Prototyp dieses Subjekts war der empfindsame Schauspieler, dem Brecht den sozialen Gestus entgegensetzt.


Literaturangaben und Anmerkungen
23 Brecht: Kleines Organon für das Theater, S. 697. [^]
24 Ebd., S. 693. [^]
25 Ebd., S. 691. [^]
26 Ebd., S. 693. [^]
27 Vgl. Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Mittel ohne Zweck, Noten zur Politik, Freiburg / Berlin 2001, S. 47-56. [^]

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