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3.2 Gestische Parabeln sozialer Verhältnisse


Im klassischen Darstellungsmodus formulierte diese Metapher einen psychologischen Subtext, der etwa die eine Figur an ihrem scheelen Blick entlarvte, während er die andere mit dem >geraden Blick< in ihrer authentischen Empfindung beglaubigte. In KATZELMACHER wird die Metapher zu einem grundlegenden Gestus ausgearbeitet, der in den wiederholten Modulationen ein symbolisches Referenzsystem entfaltet, das die jeweilige Position der Akteure im Feld der gesellschaftlichen Machtverhältnisse definiert. Diese Verhältnisse sind durchweg als sexuelle bestimmt.

Auf der Ebene des Dialogs wird die Metapher zunächst semantisch an den Gegensatz von wahrhaftiger und käuflicher


Liebe gebunden, um in immer neuen Varianten das >schiefe Kalkül des Liebeshandels< und das >Geradezu< des erotischen Begehrens als ein unauflösbares Ineinander zu beschreiben.

In ostentativen Gesten — das Betreten-den-Blick-Wenden, das Peinlich-berührt-beiseite-Blicken, das Von-der-Seite-Anstarren und -Mustern — wird das Motiv als mimische Rhetorik strategischer Kommunikation (Verleumdung, Lüge, Heuchelei, Betrug ) vorgeführt, die das Publikum und die Schauspieler aus ihrer Alltagsrealität kennen. Entsprechend wird im leeren oder offenen Blick-ins-Weite das Gradaus-Schauen als Geste der Naivität, der Blindheit und des Nicht-Wissens variiert.


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KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (24. bis 25. Minute)

Wie zwei sich unentwegt kommentierende Orchesterstimmen ist die moralisierende Rede der Frauen von den ehrlichen und den betrügerischen Liebesbegegnungen mit der gestischen Motivlinie des >schiefen Blicks< verschränkt. Wenn mit Helgas Bemerkung — eine wie die Freundin Rosy, die Liebe für Geld mache, würde sich selbst bestrafen, weil so eine nicht mehr geradeaus schauen könne — die Metapher eingeführt wird, blickt Marie ostentativ zur Seite.



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KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (7. Minute)

Sie kommentiert damit das Drängen ihres Liebhabers, der sie kurz zuvor bat, für ihn auf den Strich zu gehen. Wenn sie bald darauf mit dunkler Sonnenbrille erscheint, die außer ihr nur noch Paul trägt, versteht man, was sie zu verbergen sucht; denn Paul — das wissen die Zuschauer bereits — trägt seine Brille nur, wenn er sich heimlich als Stricher verdingt. Der verborgene Blick hinter der Brille, den man nicht sehen kann, ist, wie das Zurechtmachen der Haare, das Zeichen der direkten Liebeshändler.





Marie wird die Sonnenbrille spielerisch in der Hand halten, wenn sie "gradaus" an ihrem Liebhaber Erich vorbeischaut und von Jorgos, dem Griechen, schwärmt. Sie trennt sich von Erich, um fortan in stereotyper Phrase vom geraden Blick des Fremden zu reden. Endlich an der Seite ihres Schwarms, mag auch sie nur noch "gradaus schauen" und gönnt dem Mann neben sich kaum mehr einen Augenaufschlag. Jorgos aber schaut so gerade, weil er die Welt um sich herum buchstäblich

nicht versteht. Sein blödsinniges Grinsen wird kommentiert von Peter und Franz. Beide sind im Beziehungsschema der Gruppe als sexuell Abhängige markiert und beglaubigen ihre Knechtposition durch den stumpfsinnigen Blick ins Leere. Nur einmal — als sich auch Peter von einer anderen Frau für Sex bezahlen lässt — verbirgt er seinen Blick und trägt eine Sonnenbrille.


Marie_jorgos_peter_franz
Bildergalerie
Stills aus KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969

Von links nach rechts: Marie/Jorgos, Peter, Franz 



Anders Elisabeth, Figur des Geizes, die mit ihren von schweren Wimpern verklebten Augen zugleich die Figur des schiefen Blicks schlechthin abgibt. Ihr Machtkalkül ist in allen Beziehungsmöglichkeiten offenbar; mit schrägem Blick fixiert sie geradeheraus den Erlös, den ihr der andere verspricht.

Ihre Antipoden erkennt man in der stets beiseite sprechenden Gunda (Doris Mattes), die ihren Neid so mühselig wie erfolglos zu verbergen sucht, und dem nach innen gekehrten, traumverlorenen Blick Rosys, der sich bespiegelnden Schönen, die niemanden außer sich selbst wahrnehmen kann.


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Bildergalerie
Stills aus KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969

Von links nach rechts: Elisabeth/Peter, Rosy/Gunda 



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KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (62. bis 66. Minute)

Wenn Marie und ihre Freundinnen voneinander etwas abgerückt auf der Parkbank sitzen und grobe Gemeinheiten teilnahmslos ins Weite sprechen, ohne einen Seitenblick auf die anderen zu riskieren, ist das kein Abbild zerstörter Mitmenschlichkeit, sondern nur eine weitere Variation in der Durchführung dieses Themas. Es wird in der nächsten Szene nochmals gesteigert, wenn Paul und Erich den Ausländer am Biertisch neben sich beschimpfen, während alle drei mit teilnahmsloser Miene vor sich hin stieren. Nur wenn Jorgos, keines ihrer Worte verstehend, seinen Kopf hebt und ihnen blöde grinsend zuprostet, wenden sie sich ihm mit offenem Lächeln geradeaus zu.





In dieser Motivkette wie aufs Ganze betrachtet entwickelt die filmische Inszenierung eine Zuschauerposition, aus deren Perspektive sich die stereotypen Erscheinungsweisen menschlicher Beziehungsmuster als serielle Zeichenketten darstellen, die alle auf das sexuelle Begehren als Grund

gesellschaftlicher Machtverhältnisse verweisen. Im letzten, und dies gilt für alle Fassbinder-Filme, wird in der Inszenierung des Gestus die Ebene anvisiert, in der sich die gesellschaftlichen Beziehungen der Einzelnen als ein Machtverhältnis darstellen, das die Sinnlichkeit und das Begehren ihrer Körper durchdringt.


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