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4.6 Brecht-Fassbinder: Ein Resümee

Bei Brecht


ist es die auf der Bühne präsente Schauspielerin (in seinen Schriften ist die Schauspielkunst, nicht anders als bei Diderot, immer wieder weiblich gedacht), die letztlich zum Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen über den Gestus wird. Hier benennt der Gestus eine Schauspielweise, die das dargestellte Handeln auf Formen zurückführt, welche bar jeder mimetischen Bildlichkeit sind – es zurückführt auf eine Wirklichkeit des Handelns im Stand einer noch nicht verwirklichten, einer möglichen Realität:

[Der Zuschauer] kann zum Beispiel eine Frau, während er sie sprechen hört, im Geist noch anders sprechen hören, sagen wir in ein paar Wochen, und andere Frauen eben jetzt anderswo anders. Dies wäre möglich, wenn die Schauspielerin so spielte, als ob die Frau die ganze Epoche zu Ende gelebt hätte und nun, aus der Erinnerung, von ihrem Wissen des Weitergehens her, das äußerte, was von ihren Äußerungen für diesen Zeitpunkt wichtig war, denn wichtig ist da, was wichtig wurde.39

Eine Schauspielerin, die dergestalt agiert, muss in ihrem gestischen Spiel statt eines Charakters einen Raum zeitlicher Schichtungen, der Vergangenheiten und der Zukunft der Figur öffnen; sie muss — und das ist so konkret wie möglich zu verstehen — in ihrer Aktion die Bühne in einen solchen Raum verwandeln. Sie muss weiterhin die Gegenwart der Figur, deren Handeln und Sein, von ihrer physischen Präsenz ablösen und auf diesen Raum vor den aktuellen Handlungen und Geschehnissen zurückführen. Ihr Spiel führte dann nicht aktuelle Handlungen aus, sondern kehrte deren Bewegungsrichtung um; sie ließe sie gleichsam rückwärts laufen, transponierte sie in die andere Zeitform des Noch-nicht-entschieden-Seins, in den Modus der Möglichkeit.

Die von der illusionären Präsenz der Figur gelöste Geste ist auf die reale Präsenz einer tätigen Schauspielerin bezogen; sie ist eine faktische, physische Aktion, eine gesellschaftliche Arbeit, eine tatsächliche Produktion. Wenn alle Argumente Brechts in der Auslöschung der Illusion der Figur kulminieren, dann um die leibhaft präsente Schauspielerin in ihr Recht zu setzen. Wenn er sich vehement gegen die Einfühlung wendet, dann um deren Arbeit, deren reale Artistik auf der Bühne sichtbar werden, statt diese in einer Illusion verschwinden zu lassen. Die sichtbare Aktion der Schauspielerin tritt an die Stelle der Illusion einer körperlich präsenten Figur, um diese Figur im Bereich des Undarstellbaren, des zeitlichen ‘noch nicht’ einer möglichen Realität neu zu errichten.

Die gestische Aktion zielt auf die zeitliche Durchlässigkeit der konkreten gesellschaftlichen Konstellation, das ist das Publikum im Zuschauerraum, und auf die Relation zwischen dem, was dessen Dasein als dessen Vergangenheit determiniert, und dem, was in diesem Publikum an Möglichkeiten gesellschaftlichen Seins nicht realisiert ist. Das scheint mir der Kern des Brechtschen Konzepts vom sozialen Gestus zu sein.

Die Brechtsche Schauspielerin beschreibt tatsächlich den Prototyp eines neuen Menschen, eine historisch spezifische Idee von Subjektivität. In ihrer faktischen Tätigkeit als Schauspielerin ist immer schon realisiert, was ihr Spiel für das Publikum erst herstellen soll: ein Medium, das zwischen den tatsächlich gegebenen Verhältnissen des Wahrnehmens, Empfindens und Denkens und der Möglichkeit einer anderen, einer neuen Wahrnehmungs- und Empfindungsweise vermittelt – und durch das sich das Publikum als Subjekt der Geschichte zu fassen vermag, indem es die gesellschaftliche Wirklichkeit auf die historische Möglichkeit einer anderen Gesellschaft bezieht.


Anders bei Fassbinder:


Anders bei Fassbinder: in seinen frühen Filmen lässt die Inszenierung des Gestus das dargestellte soziale Verhalten wie die Elemente einer zeremoniellen Liturgie erscheinen, die alle sozialen Ausdrucksformen auf das Begehren und Leiden der Individuen zurückführt. Die Filme bringen noch an den alltäglichsten Handlungen ein Drama des Sexus zur Darstellung, das durchweg der Logik von Unterwerfung und Beherrschung gehorcht.40 Man könnte, Gilles Deleuze paraphrasierend, sagen, dass in der unendlich sich wiederholenden Beschreibung der Gesten sexueller Gewalt und Unterwerfung der Körper des Individuums, seine leibliche Existenzform, als eine inkommensurable Matrix hervortritt, auf die sich alle sozialen Verhältnisse – auch die der Schauspielerei – beziehen.41 Die gesellschaftlichen Mächte stellen sich nicht dar als eine außen liegende Herrschaftsstruktur, sondern als unendliche Verästelungen eines Begehrens, das seinen Grund in den Körpern der



Individuen, in ihren Wünschen und Ansprüchen hat.

Deshalb bezieht Fassbinders Inszenierung den sozialen Gestus auf genau jene Dimension der Schauspielkunst, die bei Brecht als Einfühlungsschauspiel ausgegrenzt war: auf das Pathos des leidenden, empfindsamen Subjekts. Nur das dessen Innerlichkeit nicht mehr als Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft gedacht ist, sondern eine Ebene der Immanenz bezeichnet, auf der die geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesse unauflösbar mit dem individuellen Begehren verschränkt sind. In der Vorstellung, das Kino verfüge über das ästhetische Potential, diese Verschränkung von psychischer, historischer und gesellschaftlicher Realität anschaulich werden zu lassen, kann die Utopie des Ästhetischen in den ausgehenden sechziger und beginnenden siebziger Jahren noch einmal zur prägenden Kraft des westlichen Kinos werden. Sie bestimmt gleichermaßen das europäische Autorenkino wie die Filme des New Hollywood.


Literaturangaben und Anmerkungen
39 Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, S. 685. [^]
40 Man hat das an Fassbinder stets bemerkt, doch meist als "schickes Identifikationstheater" (Wendt) oder als "melodramatischen Widerruf der Moderne" (Heinz Brüggemann: "Berlin Alexanderplatz" oder Franz, Mieze, Reinhold, Tod & Teufel?, in: Text + Kritik, Heft 103, 1989, S. 51) denunziert. [^]
41 In diesem Sinne macht Gilles Deleuze den sozialen Gestus Brechts zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Kategorie des Körpers. Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 243f. [^]

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