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1 Einleitung: Eine neue Empfindsamkeit


Mit THE EXORCIST wird der Horror zum Medium einer Erfahrung, die das klassische Genre ins Off einer verbotenen Imagination verbannte. Der Film bringt darin eine Dimension sozialer Realität zur Anschauung, die tatsächlich im hohen Maße erschreckend und verängstigend ist. Es handelt sich um Aspekte des Alltagslebens, die sich auch in zahlreichen anderen Filmen des westlichen Kinos der siebziger Jahre finden lassen: das unauflösbare Schweigen des physischen Grunds der menschlichen Existenz, die destruktiven Kräfte einer dämonisierten Sexualität und die Antinomien geschlechtlicher, freundschaftlicher oder familiärer Beziehungen, die, bis in die feinsten Verästelungen hinein, durchdrungen sind von einem alles bestimmenden Herrschaftsbegehren. Was immer an Erfahrung destruktiver gesellschaftlicher Kräfte die zeitgenössischen Diskurse der siebziger Jahre beherrschte,

in der Deterritorialisierung des klassischen Kinos wurden diese Erfahrungen sinnlich greifbar. Sie wurden, um noch einmal eine Formel der "Utopie Film" zu verwenden, als Teil der physischen Realität unserer alltäglichen sozialen Welt anschaulich.

In diesem gesellschaftlichen Bezug sind die beiden Seiten des Kinos untrennbar miteinander verschränkt. Das ist der Film als Phantasma einer Körperlichkeit, die, aller Erdenschwere ledig, ein reines Denken, ein reines Spiel der Zeichen ist, und der Film als physisch-affektive Realität der Zuschauer, als ein "auf das Bewußtsein und das Gefühl, auf den Körper des Zuschauers gerichtete Anordnung von Schlagbolzen"1. Eben das unterscheidet diese Filme von den neuen Gebietsaufteilungen des postmodernen Kinos.



Kapitel 1/Abschnitt 2


Tatsächlich sind in den arabesken Figurationen der brillant geschnittenen Verstümmelungen von KILL BILL und den obsessiven Folterungen in THE PASSION OF THE CHRIST die beiden Seiten des Kinos säuberlich voneinander getrennt. Sie bezeichnen die Pole einer neuen Genreordnung des postklassischen Kinos, die das Territorium der audiovisuellen Kultur nicht mehr nach den Ikonografien mythopoetischer Weltentwürfe, sondern nach affektiven Stimulationstypen und standardisierten Erregungsmodi vermessen. In dieser Reterritorialisierung scheint sich das Bewussteinspotential von Grenzüberschreitung und Tabubruch erschöpft zu haben, das mit der Auflösung des klassischen Genrekinos verbunden war.

Doch lässt sich am gegenwärtigen westlichen Kino durchaus eine poetologische Perspektive beschreiben, die weder der Strategie der Grenzüberschreitung noch der Logik eines postklassischen Genrekinos folgt. Es sind Filme, die, im Unterschied zum Autorenfilm der siebziger Jahre, nicht so sehr nach den verborgenen Machtmechanismen und destruktiven Kräften in den sozialen Verhaltensweisen und Beziehungen des Sexus fragen; die vielmehr auf der Ebene eines seiner humanistischen Selbstbilder und Ichideale ledigen Alltagsbewusstseins nach den Möglichkeiten eines guten Zusammenlebens, den Möglichkeiten der Freundschaft, der geschlechtlichen Partnerschaft, der Familie fragen.

In gewisser Weise hat sich damit die Perspektive umgekehrt. Statt die Mikrostrukturen der Macht sichtbar zu machen, von denen das alltägliche Fühlen, Denken und Verhalten durchzogen ist, versuchen die Filme in dem endlosen Einerlei einer Welt der vorgestanzten Existenz- und Erlebnisweisen jene Formen zu identifizieren, die eine Revitalisierung des gemeinschaftlichen Lebens ermöglichten. Ihre Logik ist gerade nicht die der Dekonstruktion, sondern folgt der Emphase einer neuen Empfindsamkeit, die ihren Grund in den abgegriffenen Plattitüden, Stereotypen und klischierten Formen eines durch und durch medialisierten Fühlens und Denkens zu finden sucht.

Ähnlich wie in den frühen siebziger Jahren findet man diese Filme in allen Bereichen des westlichen Kinos, in Hollywood – etwa bei Paul Thomas Anderson, Ang Lee oder Sam Mendes – so gut wie im europäischen Autorenkino. Wenn ich mich hier auf die Filme von Pedro Almodóvar konzentriere, dann weil diese ebenso beispielhaft wie singulär sind. Wiederholt sich in ihnen doch die Urkonstellation des westeuropäischen Kinos. Ihr Blick auf die alltägliche Medienwelt konsumfähiger Empfindungsformen, Erlebnisweisen und Selbstbildungen ist gleichermaßen von der Erinnerung an eine faschistisch organisierte Gesellschaft bestimmt wie von den mehr oder weniger konsistenten Glücksversprechen der Populärkultur amerikanischer Prägung.



Literaturangaben und Anmerkungen
1 Eisenstein, Montage der Filmattraktionen, S. 17.  [^]

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