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1 Der Grund gesellschaftlicher Machtstrukturen: DEUTSCHLAND IM HERBST

Das Scheitern der Individuen an den Ansprüchen der Gesellschaft


Unter den Filmemacherinnen und –machern des Neuen Deutschen Films zählt Fassbinder sicher zu jenen, die dem Common Sense der Protest- und Jugendkultur genauso skeptisch gegenüberstanden wie dem institutionalisierten politischen Diskurs. Seine Filme suchen die Basis einer anderen Form des Politischen zu ergründen, indem sie die Antriebe individueller Glückssuche und deren Scheitern in den Blickpunkt rücken: das Scheitern der Individuen an den Ansprüchen der Gesellschaft, so könnte man dem  

zeitgenössischen Jargon folgend formulieren. Doch genau diese formelhafte Auflösung wird von den Filmen in Zweifel gezogen. Ist in ihrer Perspektive doch nichts so ungewiss wie die Antwort auf die Frage, was denn die gesellschaftlichen Mächte sind, an denen die Individuen scheitern. Und doch wird gerade von den Filmen eine Antwort auf diese Frage erwartet; jedenfalls gründet sich ihre poetische Konzeption auf die Vorstellung, dass dem Kino die Möglichkeit eigne, das Soziale anschaulich werden zu lassen. 



Tod der Kunst versus 
Politik der Form


Für Fassbinder stellt sich dieses Problem vor dem Hintergrund einer langen Diskussion um das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Diese war von den Begriffen des Realismus, des Engagements und des Dokumentarischen strukturiert und speiste sich sowohl aus der (westlichen) Brecht-Rezeption als auch aus den Debatten der Filmtheorie. Beide Diskussionen sind mit Blick auf die diskursive Konstellation gegen Ende der sechziger Jahre exemplarisch. Auf der einen Seite findet man unter dem Vorzeichen sich radikalisierender politischer Parteinahmen eine rein funktionale Inanspruchnahme der künstlerischen Aktivitäten durch die Politik. Prägnant formuliert ist diese Position in den Thesen vom Tod der Kunst, wie sie etwa die Zeitschrift "Kursbuch" vertrat1. Auf der anderen Seite steht eine Rückbesinnung auf die Spezifik ästhetischer Erfahrungsformen, die man der Logik eines umstandslosen Realismus entgegensetzte. Unter dem vagen Label der "Politik der Form" lassen sich die unterschiedlichen Tendenzen zusammenfassen, die auf der Medialität und Formgebundenheit aller Erfahrung beharren. Das Musterbeispiel sind die Filme, die Jean-Luc Godard zwischen 1965 und 1972 drehte. Kunst im Allgemeinen und Filmkunst im Besonderen ist von dort aus betrachtet eine Arbeit an den Formen der Erfahrung. Diese schließt immer ein, dass die Möglichkeiten politischen Handelns

 

im Vorfeld bereits durch die Formen der Kommunikation limitiert und entkräftet sind. Die Strukturen der politischen Öffentlichkeit selbst, ihre mediale Materialität, ihre Produktions- und Distributionsformen bilden immer schon ein Netzwerk, in dem sich bestimmte Aspekte der alltäglichen Lebenswelt darstellen lassen, während andere ausgeschlossen bleiben. Oskar Negt und Alexander Kluge begreifen in ihrer diese Diskussion resümierenden Schrift von 19722 Öffentlichkeit als den apriorischen Erfahrungshorizont, der festlegt, inwieweit sich Individuen über die Bedingungen ihrer Lebenswelt verständigen können: Welche Erfahrungsgehalte ihrer sinnlich-physischen Existenz lassen sich dergestalt symbolisieren, dass sie für das Subjekt dieser Erfahrung wie für die anderen als Bedingung einer gemeinsamen Lebenswelt fassbar werden? Was immer innerhalb dieses Horizonts keine Repräsentation findet, bleibt unsichtbar, unsagbar, ist nicht existent. Vor diesem Hintergrund meint die Politik der Form ein poetisches Konzept, in dem der Kunst die Aufgabe zukommt, sichtbar, wahrnehmbar werden zu lassen, was bislang aus dem Erfahrungshorizont einer gemeinschaftlich geteilten Welt ausgeschlossen blieb, was innerhalb dieser Welt nicht existierte. Im Folgenden möchte ich versuchen, ein solches Konzept genauer zu bestimmen – an einem Film, der explizit in einer gesellschaftlichen Krisensituation intervenieren wollte. 


Der Film „Deutschland im Herbst“


DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1978) ist ein sogenannter Omnibusfilm, dessen Episoden von verschiedenen deutschen Regisseuren gedreht wurden. Der Film sollte eine Antwort des Deutschen Autorenfilms auf die sich überstürzenden Ereignisse im Herbst 1977 sein: die Ermordung Hanns Martin Schleyers, die Flugzeugentführung, die Selbstmorde in Stammheim, Nachrichtensperre, polizeiliche Großoffensive. Die Idee war ein Film, der Stellung nahm zur Lage der Nation, der zeigen sollte, was vorging im Land und welche Folgen das hatte. 

Fassbinders Beitrag war unter dem direkten Eindruck der Geschehnisse, noch im Oktober 1977 entstanden. Seine Episode, die unmittelbar an die einleitende Dokumentation der Beerdigung Schleyers anschließt, verhält sich dabei durchaus kritisch gegenüber der offensichtlichen Intention des Gesamtprojekts. Statt politisch Stellung zu beziehen, setzt sich der Regisseur in aller unappetitlichen Privatheit vor die Kamera und nuschelt vor sich hin. 


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DEUTSCHLAND IM HERBST. Beitrag Rainer Werner Fassbinder, D 1978
 (1. bis 2. Minute)

Der Film beginnt mit einem Telefonat. Fassbinder bittet seinen Gesprächspartner, den letzten Teil eines Interviews, das er zuvor gegeben hat, zu streichen. Offensichtlich hat er Angst vor der eigenen Courage und sucht zu verhindern, dass seine Worte öffentlich werden. Es folgt ein typisches Fassbinder-Interview. Der Filmemacher spricht in der Attitüde unmittelbarer Reflexion über die Ehe, die er für eine falsche gesellschaftliche Institution hält, eine soziale Einrichtung, die wir nur bräuchten, weil wir dazu erzogen würden, sie zu brauchen. Er fände es besser, wenn durch seine Filme Ehen scheiterten... Ein Statement, das der Diktion nach unzähligen Gesprächen über Fassbinders Selbstverständnis als Filmautor entnommen sein könnte.  



Der Zuschauer und die institutionalisierte Gewalt


In einer Zeit, in der sich deutsche Künstler und Intellektuelle einer massiven Kritik ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Sympathie gegenüber linksradikalem Terrorismus ausgesetzt sahen, erwartet man eigentlich anderes; jedenfalls dann, wenn der Anschein erweckt wird, es handle sich um brisante öffentliche Äußerungen eines Filmautors, der für sein unbürgerliches Gebaren bekannt ist.
Fassbinder weiß sehr genau das westdeutsche Publikum des Films DEUTSCHLAND IM HERBST einzuschätzen; er weiß um dessen linksliberalen Common Sense, zu dem die stereotype Kritik an der bürgerlichen Institution der Ehe ebenso gehört wie die paranoiden Formeln vom polizeilichen Aktionismus eines sozialdemokratisch geführten Staates. Von diesem 

Publikum durfte er erwarten, dass es fast jeder Kritik an den staatlichen Institutionen zustimmen wird. Er durfte aber auch erwarten, dass es sofort die Floskelhaftigkeit wahrnimmt, wenn statt des Staates die Ehe als institutionalisierte Gewalt thematisiert wird.
Nach diesem Prolog sieht man den Schauspieler Fassbinder, den der Filmautor Fassbinder in seiner Wohnung zeigt, die er mit seinem Lebensgefährten Armin Meier teilt. Auch der wird gespielt von Armin Meier, der schon in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL (BRD 1975) als Schauspieler zum Einsatz kam – bevor ihm Fassbinder nach seinem Selbstmord ein filmisches Requiem widmete: IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (BRD 1978). 


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DEUTSCHLAND IM HERBST. Beitrag Rainer Werner Fassbinder, D 1978
 (2. bis 5. Minute)

Selbstredend sind die Stilisierungen des Verhaltens der Figuren so zugespitzt, dass kein Zweifel über den Spielcharakter aufkommt. Zu sehen ist ein Schauspiel, das in der Darstellung der ehelichen Gemeinschaft von Rainer Werner Fassbinder und Armin Meier eine erste Kommentarebene zu dem eingangs erwähnten Statement entwickelt. Dargestellt wird ein misslauniger Haustyrann, der seinen Lebensgefährten drangsaliert, bis beide in einer Rauferei übereinander herfallen und Armin Meier – als spiele er die Hauptrolle in Fassbinders HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN (BRD 1972) nach – mit der Drohung, dann gehe er halt zum Saufen, die Wohnung verlässt.   



Literaturangaben und Anmerkungen
1 Vgl. etwa Karl Markus Michel: "Die sprachlose Intelligenz II". In: Kursbuch 4, 1966, ders.: "Ein Kranz für die Literatur"; Hans Magnus Enzensberger: "Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend"; Walter Boehlich: "Autodafé", alle in: Kursbuch 15, 1968.  [^]
2 Vgl. Alexander Kluge / Oskar Negt: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1972.  [^]

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