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5 LA FLOR DE MI SECRETO: Die Melodramatische Urszene


Wie kein anderer Film Almodóvars buchstabiert LA FLOR DE MI SECRETO den Gegensatz zwischen kindlichem Liebesbedürfnis und sexuellem Begehren durch, der in der Figuration Becky/Rebeca entwickelt wurde. Wie kein anderer Film operiert er mit der Unterscheidung der beiden Formen des Verlangens, dem erotischen und dem sentimentalen. Folgerichtig arbeitet sich LA FLOR DE MI SECRETO denn auch wie kein anderer Film Almodóvars an der poetischen Logik des Melodramas ab. Ist diese Logik doch wesentlich durch den Antagonismus von Liebe und Sexualität geprägt.6

Leo bewegt sie sich – wie Becky – in dem scheinbar unauflöslichen Konflikt dieser beiden Liebesmodelle. Als Schriftstellerin will sie – wie ein Mann – von den wirklichen Schmerzen des Lebens und nicht von den glücklichen Fügungen der sentimentalen Phantasie schreiben. Die "Frauenromane", mit denen sie als Amanda Gris berühmt wurde, verleugnet sie; Amanda Gris habe ein Problem mit den Farben, sagt Leo ihren Verlegern. Sie kenne nur Himmelblau und Rosa. Sie kenne keinen Schmerz, nur Sentimentalität. So bringt ihr der Erfolg lediglich das nötige Geld, um ihrer Mutter und Schwester (Rossy de Palma) den Lebensunterhalt zu finanzieren – auch in dieser Konstellation nimmt sie die männliche Position, die des Vaters ein.

Als Liebhaberin hält Leo lange am Gegensatz der Geschlechter fest – und an Paco (Imanol Arias), dem Mann, der sie ignoriert, demütigt und missachtet. In dem anderen wiederum, der sich lebhaft für ihre Romane und ihre Schönheit interessiert – Ángel –, der sich fürsorglich um sie bemüht, kann sie den möglichen Liebespartner nicht sehen. Denn Leos Sicht ist geprägt vom Pathos eines archaischen Gegensatzes der Geschlechter, vom Schwarz-Rot eines Selbstempfindens, das nur den Schmerz als Wahrheit gelten lässt – die Wahrheit des Geschlechterkampfs, wie ihn die Flamenco-Tänze zelebrieren.

Eben diese Wahrnehmung setzt der Film als subjektives Weltempfinden in Szene: Wenn Leo Rot trägt, dann brennt die Luft von ihrem Verlangen, wenn sie einen regennassen grauen Mantel überwirft, ist auch ihr Zustand grau: gedeckelt von dem ausgeblichenen Himmelblau des tief ins Gesicht gezogenen Hutes und gerahmt von den Rechtecken abgestufter Rotblau-Mischungen des Schals – violett, purpur, pink – die, ähnlich wie die schmerzenden schwarzen Stiefel, eine Reminiszenz an den abwesenden Liebhaber sind. Eine Inszenierungsweise also, die ganz den Regeln des Melodramas folgt. Doch im selben Zuge, wie der Film die Empfindungsweise der Protagonisten inszeniert, legt er die manichäische Logik frei, von der diese Wahrnehmungswelt beherrscht wird.


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Bildergalerie
Stills aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995

Beispiele für Leos Kostümierung



Aus Sicht der Zuschauer nämlich rückt diese Kostümierung Leo in die Nähe einer großen weiblichen Hollywoodlegende, die – nachdem sie den Gipfel des Ruhmes ihrer Schönheit erreicht hatte – sich nie mehr fotografieren ließ und auf immer unerkannt sein wollte. Und tatsächlich ist Leo nicht nur ein berühmter Star am pastellblau-rosa Himmel der Unterhaltungsliteratur, der sich hinter einem Pseudonym verbirgt. Sie ist auch eine Frau, die das kurze Knallrote wie Reizwäsche trägt, mit der sie sich ihrem zu jungen Geliebten

präsentiert, während sie die weiten grauen oder beigen Mäntel trägt wie ein Mann, der sich aufplustern möchte. Im weiten Mantel ist sie die Frau, die sich ihrer aufreizenden Schönheit ebenso schämt wie des Erfolgs ihrer sentimentalen Liebesromane: eine Art späte Greta Garbo-Existenz. Tatsächlich ist Leo als Filmfigur einerseits das, was sie als Schriftstellerin auf keinen Fall sein möchte: eine melodramatische Heroine, wie sie im Buche steht. Andererseits ist sie ein Mann, der sich schämt, eine Frau zu sein.


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LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995 (57. bis 62. Minute)

So fehlt in diesem Film auch nicht die melodramatische Apotheose: Leo sieht sich – endlich – von ihrem Geliebten betrogen und erkennt ihre Verlassenheit. Sie zerbricht an dem schroffen Gegensatz zwischen ihrem kindlichen Liebesbedürfnis und der Logik sexueller Begierden. Die Inszenierung der Zeit dieses Zu-Bewusstsein-Kommens, die sukzessive Entfaltung der Binnenperspektive dieses Bewusstseins, aber ist die unendlich wiederholte Urszene aller Melodramen.7



Und tatsächlich kommt Almodóvar der Poetik des Melodramas selten so nah wie in dieser Sequenz. Nur bezeichnet hier die Apotheose nicht den dramatischen Höhepunkt, sondern den Umschlagspunkt im präzisen Sinne des Wortes. Sie markiert die Achse einer Umkehrbewegung, in der die Binnenperspektive des empfindsamen Ichs nach außen gestülpt wird:

Die melodramatische Urszene: die sukzessive Entfaltung der Binnenperspektive


Im Hintergrund erkennt man Leo an den Türrahmen gelehnt, ein verschwommenes Rot; Pacos Gesicht ist sehr nah im Vordergrund zu sehen.


Eine Großaufnahme ihres Gesichts und seine sich entfernenden Schritte, dann sein entschwindender Schatten und erneut ihr Gesicht. Leo schluchzt, Musik setzt ein.


Die folgende Großaufnahme irritiert: Sie zeigt erneut das Gesicht Leos, gespiegelt in einem glänzend-roten Lackkreuz. Ein Handgriff lässt aus dem roten Ding einen Arzneischrank werden.










Bildreihe aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995

Leo nimmt – ganz melodramatische Heroine – Tabletten, um zu sterben. Das Telefon klingelt, ein kurzes Innehalten. Es ist die Stimme der Rivalin, nicht die des Geliebten.

Die melodramatische Urszene endet mit der Binnenperspektive des empfindsamen Ich


Eine schroff akzentuierte Aufsicht: Leo im roten Satin, ihr gekrümmter Körper, eingeschlossen in das Rechteck der Bettkanten.


Dann im Detail: ihr Haar, ihr Gesicht angeschnitten, die Poren der gepuderten Haut, ihr Auge, das Rot der Schulter. Die Musik klingt aus, das Bild gleitet ins Dunkel.









Bildreihe aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995

Bis dahin ist die Szene eine höchst konventionelle Paraphrase der melodramatischen Urszene, wie sie in zahllosen Filmen wiederkehrt.

Erneut hören wir das Telefon, das Klicken des Anrufbeantworters, diesmal ist es die Stimme der Mutter; eine Aufblende, das Auge öffnet sich, Leo antwortet der blechernen Stimme; im Gegenschuss der Anrufbeantworter: ein Bild größter Verlassenheit und eine spiegelgleiche Umkehrung der melodramatischen Urszene.





Die Umkehrung der melodramatischen Urszene: Wiedererwachen in der äußeren Welt


Bildreihe aus LA FLOR DE MI SECRETO (MEIN BLÜHENDES GEHEIMNIS). Pedro Almodóvar, E 1995


Die Stimme der Mutter weckt Leo buchstäblich aus dem Phantasma des Liebesschmerzes auf. Der Dialog mit dem Anrufbeantworter führt aus dem Dunkel phantasmatischer Innerlichkeit hinaus in die Welt sozialer Beziehungen. Der Film

aber inszeniert dieses Erwachen, mit deutlicher Reminiszenz an den Horrorfilm, als Geburt, Wiedergeburt: Das Auge öffnet sich wieder, die Tabletten werden erbrochen, buchstäblich wird das Innerste dieses Leidens nach außen gekehrt.



Literaturangaben und Anmerkungen
6 Vgl. Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 174-194.  [^]
7 Damit meine ich die Szene der leidenden Frau, die die ersten Melodramen im 18. Jahrhunders anhand des Ariadne-Mythos entworfen haben, und die man durchaus als Ursprungsszene des modernen psychologischen Denkens verstehen kann. Vgl. Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S.174-185.  [^]

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