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4.5 Die Zeit des Sichtbarwerdens


Wenn in der achtzehnten Minute des Films der Regisseur im Hubschrauber einfliegt, als wäre er der Star eines Politthrillers, wird diese Raumkonstruktion noch einmal durchlaufen, der Tanz noch einmal von vorn begonnen. Wie zwei übereinander gelegte, aufeinander durchsichtige Bilder wird in den Variationen zwischen der ersten (dritte bis achtzehnte Minute) und der zweiten Sequenz (neunundzwanzigste bis fünfundfünfzigste Minute) in der Hotelhalle in den Veränderungen und Abweichungen das Beziehungsmuster der

Gruppe sichtbar. Denn nun, in der Wiederholung, sind die Führungsfiguren anwesend: Jeff, der Regisseur, Eddie Constantine, der männliche, Hanna, der weibliche Star. (Jeff beschimpft das Team, so wie zuvor Sascha die Mitarbeiter beschimpft hat. Hanna Schygulla, der weibliche Star – sanft, abwesend, wie nicht dazugehörig –, markiert die Spitze der Hierarchie. Eddie Constantine gibt den beobachtenden Dritten, so fremd und ausgeschlossen, als wäre er, der Star, tatsächlich ein Gast aus einer anderen Galaxie.)


Die Veränderung in der Wiederholung


Waren in der Eingangssequenz die Gesten der Arbeit von denen der Erotik geschieden und mit diesen kontrastiert, so wird nun jede Arbeitsbeziehung mit dem erotischen Begehren und jede Liebesregung mit den Hierarchien der Arbeit kurzgeschlossen. Das eine wird jeweils auf das andere, das sexuelle Verhältnis auf Unterwerfung und Abhängigkeit, die

Arbeit auf sexuelle Wünsche reduziert. Ein schweifender Kamerablick, der das Rund der Eingangshalle in einer Totale zeigt, führt die Sequenz ein: In der Mitte der Arena tanzen Schroeter und Montezuma, auf der einen Coach liegt das Groupie in Sexspielen mit zwei Männern versunken, auf der anderen Couch knutscht die Maskenbildnerin mit dem Beleuchter.


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WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1971
 (28. bis 36. Minute)

Nach und nach füllt sich der Raum, das gesamte Personal des Films tritt auf. Wie eine fleischgewordene Allegorie spielt Magdalene Montezuma Irm, die betrogene Geliebte, der man die Ehe versprochen hat und die sich nun verstoßen sieht. Zugleich wird sie vom Chef schlicht um ihren Arbeitslohn betrogen und gefeuert. Jeff betritt im Gestus eines dilettantischen Bühnenschauspielers die Arena und schlägt die Frau nieder. Teilnahmslos, mit schweigender Miene verfolgen die Umstehenden die Szene, die wie die Probenarbeit an einem großen Bühnenauftritt erscheint, so als studierten sie die Geste der Demütigung, die sie sich wechselseitig zufügen oder zufügen lassen.


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WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1971
 (36. bis 39. Minute)



Im Gegenzug tritt der Kameramann auf; von der kreisenden Kamera begleitet, schreitet Jeff mit ihm den Raum ab und erklärt in ruhigen Worten seine Filmidee. Das rein professionelle Gespräch fügt sich wie ein utopisches Gegenmodell in das Bild eines unerträglich scheinenden Beziehungsgeflechts, so als würde die reine Arbeitsbeziehung den Horror des alltäglichen In-Beziehung-Seins für kurze Zeit beschwichtigen können. Die Kamera hat sich mit diesem Gespräch aus dem Beziehungsgeflecht gelöst, gleichsam schwebend auf den Schritten und Worten, die Kameramann und Regisseur hier austauschen.



Nach und nach versteht man die Erläuterungen, die Jeff dem Kameramann zu dem geplanten Film gibt. Die Apotheose freilich, die er beschreibt, betrifft die Szene, die er unmittelbar zuvor gespielt hat, als er Irm/Montezuma niederschlug: Im Gespräch mit dem Kameramann beschreibt Jeff, wie der

Hauptdarsteller des geplanten Films seine Frau niederschlägt. Der Film, den er ‘gegen staatlich sanktionierte Gewalt’ drehen will, gründet auf den Gewaltverhältnissen der Gruppe, die ihn produziert.



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WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1971
 (50. bis 54. Minute)

Dann leert sich die Halle wieder, bis nach zwanzig Minuten auch die zweite Sequenz in der Hotellounge in einer langsamen Drehung der Kamera gipfelt, die das Rund der Lounge zur Gänze ausmisst; der leere Raum, in der Stille sind die Meereswellen zu hören. Die vier Männer an der Theke singen einen Choral von Leid und Schmerz, ein letzter Auftritt, eine letzte Selbstpräsentation, eine Abblende in der fünfundfünfzigsten Minute. Die erste Stunde des Films, das ist im Wesentlichen die Zeit, die Dauer des Zur-Darstellung-Bringens der Gruppe.


Die präsenz der Kamera als Dauer des In-Erscheinung-Tretens der Figuren


Die kreisende Kamera gliedert in der Aufteilung des Raumes die Dauer des In-Erscheinung-Tretens der Figuren. Zum einem, indem sie jedem Paar, jedem Gesicht, jedem Körper, jeder Geste einen Platz im räumlichen Beziehungsgeflecht zuweist; zum anderen, indem jede dieser Zuweisungen und Relationen zugleich ein Moment des Entstehens des Bewegungsbildes selbst darstellt. Für die Zuschauer stellt es sich schließlich dar als ein ausladendes Rund über dem Meer – ein Drehen, ein Kreisen, das gleichermaßen räumlich konkret wie zeitlich abstrakt ist.

Tatsächlich bezeichnet die Präsenz der Kamera eine Position, die gänzlich außerhalb der Gruppe liegt; sie weist auf die Zuschauer, um deren Aufmerksamkeit die Schauspieler ringen. Man könnte sagen, die Kamera artikuliert die Zeit, in der das Ensemble des antiteaters, in der Fassbinder und seine Filmcrew als Schauspieler sichtbar werden, die sich selbst als Figuren entwerfen. Es ist die Zeit, in der die Gruppe der Fassbinder-Schauspieler – in dem verzweifelten Bemühen, Figuren darzustellen, die sie selber sind – von den Zuschauern, dem Publikum gesehen und verstanden sein will.


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