Zur Übersicht
translation missing: de.zurueckVor

02 Inszenierungsstrategien des Geschichtlichen – Bilddokumente und Kinoillusionen


Wie verhalten sich die Bilddokumente zu den fiktionalen Darstellungsformen? Welche Umarbeitung erfahren sie und welche poetische Logik bzw. welche wirkungsästhetische Strategie kommt darin zum Ausdruck? Und umgekehrt: Welche Funktion übernehmen die ästhetischen Strategien, Pattern und Formeln, die im Kontext des Unterhaltungskinos entstehen, innerhalb einer auf Information, Dokumentation und Belehrung ausgerichteten Kriegsdarstellung?

Diese Fragen lassen sich historisch kaum besser verorten als im amerikanischen Kino der vierziger Jahre. Wird doch das Kino in dieser Zeit zu einem Medienverbund, der bereits die Formate des Fernsehjournalismus im Keim in sich trägt und mit dem Fotojournalismus verschränkt. Zugleich entsteht aus diesem global operierenden System von Foto- und Filmdokumentaristen ein neues Segment des Genrekinos: der Combat Film.

Tatsächlich ist das, was man heute den Kriegsfilm des klassischen Hollywoodkinos nennt, erst in diesen Jahren des Zweiten Weltkriegs entstanden.7 Die Grundmuster gehen zurück auf den Fronteinsatz der Hollywoodregisseure im propagandistischen Dienst der amerikanischen Regierung. Regisseure wie Frank Capra, John Huston, John Ford, George Stevens oder William Wyler leiteten während des Krieges Dokumentarfilmstaffeln, die unmittelbar für das Militär oder den amerikanischen Geheimdienst (OSS) tätig waren.8 So entstanden einige der frühesten Spielfilme über die alliierten Siege auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz im selben Zuge wie das Wochenschaumaterial, das die historischen Ereignisse dokumentierte.9 Hollywood trat buchstäblich mit seinem gesamten Know-how um die Logik der Zuschauerwünsche und -erwartungen – repräsentiert durch die bekanntesten und erfahrensten Regisseure – in den Krieg ein.10




Kapitel 2/Abschnitt 2

Hollywood und Washington

Die Verbindung zwischen Hollywood und den Regierungsstellen der kriegführenden USA ist ein exzellent erforschtes Terrain.11 Deshalb sollen hier nur einige Fakten rekapituliert werden: Die institutionelle und personelle Verzahnung zwischen Filmindustrie, den Regierungsstellen für Öffentlichkeitsarbeit und Zensur, dem Geheimdienst und dem Militär entwickelt sich mit Beginn der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie bezieht sich auf drei verschiedene Sparten der Filmproduktion:

Erstens die Trainings- und Lehrfilme, die für die Ausbildung der Soldaten eingesetzt wurden.12 Die Produktion dieser Trainingsfilme wurde mit wachsendem Bedarf professionalisiert. Unter anderem produzierte John Ford 1941 auf dem Studiogelände der Fox einen Lehrfilm über Sexualhygiene.

Zweitens die „Newsreels“, die von der Filmindustrie in unterschiedlichsten Formaten produziert wurden. Sie konnten sich während der Kriegsjahre eines großen Publikumsinteresses sicher sein. Die Produktion des Film- und Fotomaterials selbst war Bestandteil des militärischen Einsatzes. Es wurde von Kameraleuten des US Army Signal Corps bzw. der Navy Photographic Unit produziert, die an allen Kampfschauplätzen im Einsatz waren. Soweit zivile Kameraleute in das Militär eingebunden waren, unterstanden auch sie den militärischen Bestimmungen. Das Material musste stets von der Zensurbehörde des Kriegsministeriums freigegeben werden.

Drittens die Informations- und Dokumentationsfilme, die


„orientation films“ und „combat reports“: Vor allem in diesem Genre haben Regisseure, deren Arbeiten die Erzählweise, den Stil und die Formensprache des Hollywoodkinos jener Zeit entscheidend prägten, beispielhafte Filme produziert. Zu nennen sind hier vor allem vier Namen:

Frank Capra, der als Major des Signal Corps vor allem die siebenteilige Serie WHY WE FIGHT13 und den Film TUNISIAN VICTORY (USA 1943) produzierte; George Stevens, der, ebenfalls im Dienst des US Army Signal Corps, eine Einheit von „combat photographers“ führte, die die alliierten Truppen von der Normandie bis Paris begleiteten; William Wyler, der sich zunächst als Zivilist dem Signal Corps anschloss. Er engagierte sich für den Informationsfilm THE NEGRO SOLDIER (USA 1944). Der Film stand – analog zum WHY WE FIGHT-Projekt – unter der Leitfrage: „Why it was also a black man’s war.“ Das Projekt scheiterte offenbar am alltäglichen Rassismus, der Wylers Team bei den Dreharbeiten begegnete und der – nach dem Willen der Auftrageber – im Film nicht thematisiert werden durfte.14 Vereidigt als Major der US Air Force stellte Wyler danach ein Filmteam zusammen, das eine Dokumentation über die 8th Air Force in England drehen sollte: MEMPHIS BELLE (USA 1944) gehört zu den überaus erfolgreichen Dokumentationen dieses Typs; in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand gleichsam als Nachzügler THUNDERBOLT (USA 1947).

Schließlich John Ford, der – wie man heute weiß – im Dienst des US-Geheimdienstes ein eigenes Corps von Kameraleuten von Pearl Harbor bis nach Omaha Beach befehligte. Er hat mit den Filmen DECEMBER 7TH (USA 1942) und THE BATTLE OF MIDWAY (USA 1942) einige grundlegende Aspekte des neuen Filmgenres ausgearbeitet.




Kapitel 2/Abschnitt 3

Remember! – Die Symbiose zwischen Genrekino und Zeugniswert der Dokumente jenseits des Gegensatzes von Authentizität und Manipulation

Als Fords Produktionsteam in Pearl Harbor eintrifft, findet es nur noch die Ruinen der großen Armada der US Navy vor. Trotzdem entwickelt Ford ein Inszenierungskonzept, das wie ein Dokumentarfilm die Stunden der Zerstörung greifbar machen will. Er kombiniert aufwendig inszenierte Kampfszenen mit dokumentarischen Aufnahmen zu einem zweistündigen Film, December 7th. Von diesem Film ist, nachdem er zunächst von der Zensurstelle beschlagnahmt wurde, nur eine

zwanzigminütige Fassung an die Öffentlichkeit gekommen. Heute ist eine längere Version auf DVD greifbar. Fords nächster Beitrag, THE BATTLE OF MIDWAY, profitiert zwar von dem Umstand, dass das Filmmaterial während tatsächlicher Kampfhandlungen entstand. Umso entschiedener sind jedoch die inszenatorischen Strategien eingesetzt, die dem unüberschaubaren Geschehen eine pathetische Rahmung geben. Während das unter der Erschütterung detonierender Bomben aus dem Rahmen springende Filmband Authentizität suggeriert, wird der Augenblick, in dem die Flagge (wohl auf Geheiß der Regie) in das Licht des Himmels gesetzt wird, zu einer Pathosformel stilisiert, die in späteren Kriegsfilmen immer wiederkehrt. Ähnliches gilt für die betont alltäglichen Gesten und Gesichter der Soldaten nach der Schlacht und das katholische Begräbnisritual. 


Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.

THE BATTLE OF MIDWAY, John Ford, USA 1942  (6. bis 7. Minute)

Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.

THE BATTLE OF MIDWAY, John Ford, USA 1942   (13. bis 14. Minute und 15. bis 16. Minute)


Darüber hinaus nimmt Ford eine handfeste Fälschung vor. Er schneidet in die Reihe der Soldaten, die ihre Toten im Trauerritual verabschieden, das Bild des Sohns von Präsident Roosevelt ein, das tausende von Meilen entfernt aufgenommen wurde. Die Frage, ob Ford den Kunstgriff anwendete, um den Film an der Zensurbehörde vorbei in die Kinos zu bringen, oder ob er nicht einfach die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls im Auge hatte, weist auf ein grundlegendes Problem zurück, das sich mit diesen und ähnlichen Filmen verbindet: Gilt doch die erste Antwort als Rechtfertigung einer Fälschung, die zweite als Sündenfall aller Dokumentation.

Bis heute ist die Diskussion des Kriegsfilms von einer Dichotomie geprägt, die das Problem des Genres eher verstellt als erhellt: Handelt es sich um eine Darstellung, die das Grauen des Kriegs so erschütternd wiedergibt, wie es tatsächlich ist, oder ist die Darstellung durch täuschende Milderung oder handfeste Fälschung manipuliert?

Was freilich mit der Frage nach der dokumentarischen Faktizität aus dem Blick gerät, ist der Umstand, dass die Filme sich durchweg indifferent gegenüber dieser Dichotomie verhalten. Von Sam Fuller bis Oliver Stone und John Irvin haben die Regisseure immer wieder den Anspruch auf Augenzeugenschaft für sich erhoben. Der klassische Kriegsfilm ist nicht denkbar ohne die betonte Referenz des Bilds auf ein

historisches Ereignis, ohne die dokumentarische Funktion von Fotografie und Film.15

Gleichzeitig waren die Dokumentarfilmaufnahmen von Anfang an ebenso deutlich auf die Kinoillusion und das Genrekino bezogen. So wie Ford die Trauerfeier für die Gefallenen nach allen Regeln der Hollywoodkunst organisierte, ließ William Wyler die Soldaten, deren Siegeszug durch Italien er dokumentarisch begleitete, wie die Statisterie eines Historienfilms mit genauen Regieanweisungen zur Morgenwäsche antreten. Und wenn Sam Fuller nach dem Krieg Dokumentaraufnahmen des zerstörten Deutschlands in die filmische Darstellung einbaut, dann zielt das im Effekt nicht auf die Beglaubigung der Fiktion, sondern auf die fiktionale Aufladung des Dokuments.

Dass die Dokumentarfilmaufnahmen von Anfang an auf die Kinoillusion bezogen waren heißt also, dass die Filme eine Verdichtung der Dokumente zu einem komplexen Erinnerungsbild zu erarbeiten suchen. Sie sind nicht Zeugnisse der Geschichte, sondern Teil der kulturellen Phantasiearbeit an der Imagination des Geschichtlichen.16 Will man den Kriegsfilm als ein Genre des Hollywoodkinos eingrenzen und verstehen, dann zeichnet er sich durch diese Gedächtnisfunktion aus. Er ist „Erinnerungsdichtung“17 am männlich-militärischen Selbstbild einer Nation.

An folgendem Vergleich lässt sich dies zeigen:


Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
WITH THE MARINES AT TARAWA, Louis Hayward, USA 1944 (14. bis 16. Minute und 18. bis 19. Minute)

 

 







WITH THE MARINES AT TARAWA (USA 1944) ist ein Film, dem man nicht nur die Gegenwart der Kampfhandlung deutlich ansieht, sondern der offenbar alle Zensurregeln ausschaltet: Man sieht die unmittelbaren Folgen der Attacken, die verbrannten Leichen der Feinde, verwundete Soldaten, Gefangene, die nackt auf dem Boden kauern, und vor allem sieht man tote Marines, zurückgelassen am Strand.


Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
SANDS OF IWO JIMA, Allan Dwan, USA 1949 (56. bis 58. Minute)

 

 



Die eingefügten Dokumentaraufnahmen in SANDS OF IWO JIMA (USA 1949) zielen nicht auf die historische Beglaubigung des vergangenen Geschehens, sondern auf die Gegenwart eines höchst heterogenen Publikums. Sie sind auf dessen Bildgedächtnis gerichtet und rufen die Erinnerung an die „Newsreels“ der Kriegstage auf. Filme wie diese suchen Pathosformen zu schaffen, die in den Bild- und Tondokumenten den Schrecken des Kriegs als eine Vergangenheit setzen, der sich ein neues Gemeinschaftsempfinden verdankt.



Das kinematografische Bild des Kriegs zielt also nicht auf die Authentizität des historischen Faktums. Dass der Kriegsfilm trotzdem diese Referenz selbst dort noch behauptet, wo seine Handlung pure Fiktion ist, liegt in seiner spezifischen Dramaturgie begründet. Sie ist beherrscht von der
Monotonie des festgelegten, unabänderlichen Verlaufs, der nicht revidiert werden kann, weil er längst geschehen ist.18 Der Kriegsfilm bezieht sich auf die Dunkelheit eines Ereignisses, von dem es keine Bilder geben kann.  


Literaturangaben und Anmerkungen
7 Chambers, John Whiteclay: World War II. Film and History, New York [u.a.]: Oxford Univ. Press. 1996. Selbstredend gab es auch vorher Kriegsfilme, aber zu einem Genre innerhalb des Hollywoodsystems wird der „Combat Film“ erst in den vierziger Jahren. Innerhalb des Genresystems besetzt er die Position des klassischen Westerns, der für die Kriegsjahre verschwindet, um nach dem Zweiten Weltkrieg in transformierter Gestalt wiederzukehren. [^]
8 Seeßlen, Georg: Von Stahlgewittern zur Dschungelkampfmaschine. Veränderungen des Krieges und des Kriegsfilms. in: Kino und Krieg. Von der Faszination eines tödlichen Genres, hg. Evangelische Akademie Arnoldshain und Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V., Frankfurt 1989. Vgl. auch Dick, Bernhard F.: The star-spangled screen: the American World War II film, University Press of Kentucky 1996. [^]
9 Diese Filme kamen nur wenig zeitversetzt im Jahr 1943 in die Kinos. Zu nennen sind etwa Billy Wilders Five Graves to Cairo(USA 1943) oder John M. Stahls Immortal Sergeant (USA 1943).  [^]
10 Vgl.: Claudia Schreiner-Seip: Film- und Informationspolitik als Mittel der Nationalen Verteidigung in den USA, 1939-1941. Eine Studie über die Umsetzung außenpolitischer Programme in Filminhalte, Frankfurt a.M., Bern, New York 1985, S. 140f. und: Thomas Doherty: Projections of war: Hollywood, American culture, and World War II, Columbia. Univ. Press 1999. Tatsächlich richtet das US Army Signal Corps bereits im Juni 1940 ein neues Filmlabor ein, in dem in Hollywood arbeitende Reservisten Dienst leisten sollten, um die für die Truppen produzierten Trainings- und Lehrfilme professioneller zu gestalten, als das bisher der Fall gewesen war. Vgl.: Doherty, Projections of war, S.64ff.  [^]
11 Vgl. dazu: Doherty, Projections of war.  [^]
12 Der Vizepräsident der Twentieth Century Fox, Darryl F. Zanuck, war zugleich in seiner militärischen Funktion beim Army Pictorial Service für die Vergabe von Aufträgen an die Filmstudios zuständig.  [^]
13 Frank Capra: The name above the title. An autobiography, New York 1997, S.311 und S.314.  [^]
14 Axel Madsen: William Wyler. The Authorized Biography, New York 1973, S.227.  [^]
15 In den später entstandenen Filmen hat man sich auch der literarischen Zeugnisse von Kriegsteilnehmern bedient – von James Jones’ Roman "From Here to Eternity" bis zu Michael Heers "Dispatches".  [^]
16 Vgl. dazu: Doherty, Projections of war.  [^]
17 Freud, Sigmund: Meine Ansicht über die Rolle der Sexualität, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt/M. 1999, S. 154.  [^]
18 Die Filme von John Irvin (HAMBURGER HILL Hill, USA 1987) sind ein gutes Beispiel, der Topos der erinnerten Reise und das Ritualmotiv ein anderes (APOCALYPSE NOW, USA 1979).  [^]

Zur Übersicht
translation missing: de.zurueckVor
translation missing: de.icon_seitenanfang
request.remote_ip=18.97.14.85