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2.2 Der soziale Gestus - ein (zu) selbstverständlicher Begriff?

Fassbinders Fusion von Hollywoodmelodrama und Brecht'schem Gestus


Was also ist der soziale Gestus? Auf den ersten Blick haben wir es mit einem inhaltlich recht klar bestimmten Terminus zu tun. Glaubt man dem Wörterbuch, gehört der Begriff "Geste" zu den wenigen Beispielen sprachlicher Eindeutigkeit: Eine Geste, das ist eine ausdrucksvolle Hand- oder Körperbewegung. Und selbst die metaphorische Logik im erweiterten Sprachgebrauch des Wortes scheint einigermaßen stringent, denn die Rede vom Gestus des Sprechens, des Schreibens und Tuns verschiebt den Bedeutungsgehalt lediglich um eine Komplexitätsstufe nach oben: Das Präsentieren von Gesten, Sätzen und Handlungen kann selbst wiederum von einer Geste begleitet werden. Auf den zweiten Blick aber enthält bereits die genannte Differenzierung zwischen Geste und Gestus das ganze theoretische Problem des Brechtschen Schauspielers. Das wird zu diskutieren sein.

Zunächst ist festzuhalten, dass man es bei dem Wort Geste mit einem festumrissenen semantischen Feld zu tun hat. Von ähnlicher Eindeutigkeit scheint der Terminus in Brechts Theatertheorie zu sein. Folgt man dem herkömmlichen Verständnis, verschiebt der Begriff des sozialen Gestus die Referenz der schauspielerischen Darstellung von einem psychologischen Entwurf der Figur auf die Darstellung isolierter sozialer Verhaltensweisen. Das Feld sozialer Beziehungen wird auf diese Weise unmittelbar zum dramatischen Gegenstand.7 Zunächst also bezeichnet der soziale Gestus lediglich den veränderten Gegenstand eines Schauspiels, das den Akt des alltäglichen Sprechens und Handelns unmittelbar zur Anschauung bringen will.

In dieser Lesart ist die Brechtsche Schauspieltheorie, nicht  

zuletzt eben durch ihre Wirkung auf den westdeutschen Autorenfilm und das Regietheater der sechziger und siebziger Jahre, populäres Allgemeingut geworden. Es hat den Anschein, dass der große Widersacher, der auf Einfühlung sinnende empfindsame Schauspieler, in Brecht eine so gründliche Kritik erfahren hat, dass er zum Inbegriff des naiven Schauspiels der Fernseh-Soaps, des Kommerzkinos und des routinierten Theaterbetriebs geworden ist. Im westlichen Nachkriegseuropa scheint das psychologische Schauspiel auf Seiten der Kunst ohne einen gewichtigen Fürsprecher, ohne theoretisches Fundament und ohne methodische Schule zu sein.

Nun ist evident und hinlänglich diskutiert worden, dass Fassbinder diese Kluft zwischen populärkultureller und ästhetisch-reflexiver Darstellungsform, zwischen reflexiver Ästhetik und melodramatischer Unterhaltungskunst zu überwinden sucht. Tatsächlich verbindet er in seinen frühen Filmen zwei Schauspielweisen, die gegensätzlicher nicht sein könnten; bezieht er doch die Brechtsche Darstellungstechnik auf die gestische Rhetorik melodramatischer Spielweisen des Hollywoodkinos. In dieser Verbindung zeigen die Filme Fassbinders ihre spezifische Prägung.

Aber auch Brechts Überlegungen zum Gestus lesen sich im Kontext der Filme Fassbinders anders als in jenem der gesellschaftspolitischen Funktionsbestimmungen des Theaters, wie sie die westdeutsche Brecht-Rezeption dominierte. Verhält es sich doch mit der Theatertheorie Brechts ähnlich wie mit dem Begriff der Geste: Das Vorverständnis scheint so gründlich ausgebildet und plausibel zu sein, dass man gar nicht weiß, was noch zu fragen bleibt. 


Theoriebildung als Inszenierungspraxis


War Brechts Theaterkonzept also so erfolgreich, dass seine Lehrsätze in Redundanz erstarrten? Dies scheint zumindest für die Theorie des Schauspielers zuzutreffen. Ist man doch durch das allzu Selbstverständliche der Brechtschen Lehre geneigt, den Begriff des Gestus unmittelbar auf dessen gesellschaftstheoretisches Fundament zu beziehen und die künstlerischen Darstellungsverfahren, mit denen soziale Beziehungen anschaulich werden sollen, umstandslos in einer Theorie dieser Beziehungen zu begründen. So gilt im konventionellen Verständnis der "soziale Gestus" weniger als ein ästhetischer Begriff denn als theoretische Verankerung des Schauspiels in einer politischen Funktionsbestimmung: Indem er das Schauspiel in einen diegetischen Modus transformiere, ermögliche der soziale Gestus, an den Figuren das bewegliche Gefüge gesellschaftlicher Beziehungen sichtbar zu machen.8 Der Gestus bringe letztlich in poetischer Verdichtung zum Ausdruck, was die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, die Logik kapitalistischer Herrschaft.9

So könnte man Roland Barthes’ Brechtlektüre zusammenfassen, die eine Linie zieht zwischen dem Theater Diderots, der Montagetheorie Eisensteins und dem Brechtschen Gestus. Seine Lesart rekapituliert den Vorwurf erneuter Totalisierung, der sich als Kritik der historischen Avantgarden durch das gesamte poststrukturalistische Denken zieht.10 Statt den fragmentierten, unbewussten Körper des Begehrens freizusetzen, unterwerfe das Brechtsche Schauspiel den Körper des Schauspielers der Darstellungslogik der Repräsentation; es ziele im Letzten, nicht anders als Diderot im Tableau vivant, auf ein Bild, das die Gesellschaft in ihrer Totalität zu repräsentieren vermag. 

Aus der Perspektive der Filme Fassbinders betrachtet, stellen sich Brechts Argumente weniger als Aussagen einer soziologisch fundierten Theorie des Theaters denn als Selbstverständigung über die Probleme der konkreten Schauspielerarbeit dar. Man sollte daher zunächst nach dem Status der schauspieltheoretischen Überlegungen Brechts fragen, nach der Eigenart seines Argumentierens, nach – auch das ist formelhafter Brecht – dem Gestus der Gedankenführung.

Was man auf den ersten Blick feststellt, ist eine Reihung von apodiktischen Aussagen, die stets in strenger Verneinung auf einen überdeutlich konturierten Gegner bezogen sind. Die Texte begegnen dem Leser mit lautstarken Direktiven, herrischen Anweisungen und polemischen Abgrenzungen. Sie beharren auf der Einsinnigkeit des Arguments und häufen Antithese auf Antithese – wohl im Vertrauen darauf, dass die gegnerischen Thesen zur Verteidigung psychologischer Schauspielkunst auf Seiten der Lesenden ihre Fürsprecher haben.

So beschreiben die Texte eine diskursive Arena, in der die Argumente Punkt für Punkt und Satz für Satz ihren Gegner aufrufen.11 Sie entwerfen ein dialektisches Schlachtfeld zwischen erzählender und einfühlender Schauspielkunst, zu dem sich das Theater im Idealfall nur als je aktualisierende Synthese verhalten kann. Vielleicht ließe sich deshalb auch da, wo das Argument nicht in Rollenprosa und Figurenperspektiven entwickelt ist, von einer dramatischen Form der Theoriebildung sprechen, die erst in der konkreten Inszenierungspraxis zum ausgebildeten Gedanken findet. 


Literaturangaben und Anmerkungen
7 Vgl. Keller, Otto: Der Gestus als neues ästhetisches Zeichen, in: Zeichen und Realität, hg. v. Klaus Oehler, Hamburg 1981, S. 505. [^]
8 Vgl. Keller: Der Gestus als neues ästhetisches Zeichen. [^]
9 Vgl. Keller: Der Gestus als neues ästhetisches Zeichen. Vgl. Roland Barthes: Diderot, Brecht, Eisenstein, in: Filmkritik 11, 1974, S. 496. [^]
10 Barthes: Diderot, Brecht, Eisenstein; Jean-François Lyotard: Der Zahn, die Hand, in: ders: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 11-23. [^]
11 Auch darin beziehen sie sich auf die dramatische Schreibweise, in der Diderot seine Theorie des Schauspielers entworfen hat. [^]

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