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05 Das absolute Interieur

Abstraktion der Villa

Bei aller Weitläufigkeit, die man mit dem Ort verbindet, verfolgt die Inszenierung ein eigentümlich abstraktes Konstruktionsprinzip.


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Bildergalerie
4 Stills aus LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945

Die Suiten und Schlafräume sind streng den Figuren zugeordnet und
erscheinen mehr als Teil ihrer Exposition denn als Ortsbeschreibung.


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6 Stills aus LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945

Kein umherschweifender Blick erschließt uns das Haus. Wir sehen stattdessen in
immer neuen Perspektiven Teile des Salons, der Bibliothek, der Empfangshalle, der
Treppe, der Galerie, des Speisesaals, die in sich klare räumliche Bezüge herstellen,
ohne die konkret räumliche Ausdehnung des Hauses zu entfalten.


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LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945 (3. bis 5. Minute)

In der ersten Einstellung des Films liest man die Namen seiner Bewohner, geschrieben auf silbern gerahmten Tischkärtchen: eines wird hervor-gehoben, Joachim von Essenbeck. Man sieht einen Tisch, beladen mit kostbarem Geschirr, umringt von zahlreichen Bediensten, die nicht aufhören, immer neue Dinge in der Überfülle der Festtafel zu platzieren. Dann sehen wir Konstantin: Nackt in einer Wanne sitzend, die frei in den Raum gestellt ist, nimmt er ein Bad gleichsam auf offener Bühne. Vom ersten Moment an ist er als die Figur etabliert, deren massive Körperlichkeit den größten Gegensatz bildet zu diesen Räumen, in denen alles, was auf die physische Bedürftigkeiten deutet – schlafen, essen, waschen, kleiden –, sich in kostbaren Dingen, edlen Werkzeugen und nützlichem Schmuckwerk darstellt und verhüllt.


Das ist die Welt Joachim von Essenbecks, der sich mit jeder Bewegung, jeder Geste, in jedem Zug seiner Kleidung in die dunklen Holztöne der Möbel und die gedämpften Rottöne der Teppiche und Stofftapeten einbettet wie in ein samtenes Etui. Kein größerer Gegensatz als die angedeutete Geste, mit der er die Berührung seines Dieners zurückweist, der ihm mit der Kleiderbürste noch einmal das Jackett richten will, und Konstantins (Reinhard Kolldehoff) ersten Worten, mit denen er den jugendlichen Butler auffordert, ihm kräftig den Rücken zu schrubben.



Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969

Getrennte Welten






Bei Joachim erzählt die gediegene Ausstattung – die silbern gerahmten Fotos, die Vasen, goldenen Spiegel und Kronleuchter, kristallenen Schalen und rotglasigen Karaffen – von der wilhelminischen Vergangenheit (die erste Einstellung zeigt ihn, wie er das Foto seines im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes küsst, ein anderes Foto zeigt den Kaiser).



Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969

Bei Elisabeth (Charlotte Rampling) und Herbert Thallman (Umberto Orsini) stellt sich das Interieur in lichter Modernität dar. Das Paar fügt sich nicht weniger harmonisch als der Patriarch in den von hellen Braun- und Rosatönen, cremefarbenen und weißen Möbeln dominierten Dekor: Nur dass hier umgekehrt die Dinge die Eleganz und Schönheit ihrer Bewegungen zu instrumentieren scheinen. Sie sind – oder besser sie wären – das Paar einer geglückten, hohen Bürgerlichkeit. Tatsächlich trifft sie die erste Welle der Vernichtung.


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LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945 (24. bis 27. Minute)





Die Gemächer Sophies (Ingrid Thulin), der Baronin von Essenbeck, sehen wir erst im Anschluss an den Festabend – den kleinen Aufführungen zu Ehren von Joachims Geburtstag, das festliche Dinner, die Ansprache Joachims. Während Frederick (Dirk Bogarde) vom Reichstagsbrand spricht und dabei – halb verklausuliert, halb unverblümt – den Mordkomplott schmiedet, tanzen die flackernden Schatten des Kaminfeuers über die Möbel und die Gesichter.







Das dramatische Licht, durch verschiedene Steh- und Tischlampen akzentuiert, steht im Gegensatz zur Atmosphäre träger Schläfrigkeit, die von der opulenten Fülle an Decken, Vorhängen und jeder Art von Liege- und Sitzmöbeln ausgeht. Nach und nach verbinden sich flackernde Schatten im halbdunklen Raum mit dem Minen- und Gestenspiel der Schauspieler zu einem Ausdrucksgebilde, in dem das kalte Kalkül Sophies und der obsessive Ehrgeiz Fredericks miteinander verschmelzen.


Affektive Typen





So entsteht bereits in den ersten Minuten ein Bildraum, der in den konkreten räumlichen Verhältnissen die gegensätzlichen Bestrebungen und affektiven Typen der Figuren aufeinander bezieht. Die Räume sind wie nach innen sich ausfaltende Spiegel der Figuren, die wiederum auf das zentrale Ensemble aus Salon, Speisesaal, Empfangshalle und Galerie ausgerichtet werden. In ihnen spiegeln sich, wie in Bühne und Zuschauerraum am Beginn von SENSO, zwei verschiedene Wirklichkeitsebenen ineinander: die psychische Wirklichkeit der Figuren und die Welt der schönen Dinge. Was so entsteht, ist eine Welt wie unter Glas gesehen, aus der sich der Film nur selten herausbewegt. Und wenn doch, dann erscheinen diese anderen Orte selbst wiederum als monadische Spiegelung dieses absoluten Interieurs, der Villa der Essenbecks.


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LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945 (17. bis 24. Minute)

"Familie" als
Darstellungsverfahren






Auch wenn diese aus aller Sozialität herausgelöste Familie auf eine gesellschaftliche Konstellation verweist, bezeichnet sie doch zuallererst ein Darstellungsverfahren, eine Art und Weise der Inszenierung: Die um den Tisch versammelte Familie, umstellt von der Schar von Lakaien, ist selbst eine Bühnenszene. Eine Art höfisches Theater, in dem der Adel seinen Alltag als repräsentatives Schauspiel für das gemeine Volk inszeniert.


In diesem Schauspiel ist etwas von den ‘Bestrebungen freier Menschen’ greifbar, obwohl seine grundlegende Spielregel die des nicht Gemein-Seins und sich niemals Gemein-Machens ist. Wenn Joachim von Hitler spricht als demjenigen, mit dem er sich niemals verbündet, dann spricht aus ihm keine politische Überzeugung, sondern die aristokratische Gesinnung, die auch den Fürsten von Salina beseelt.Tatsächlich wird in IL GATTOPARDO eine utopische Dimension deutlich, die in LA CADUTA DEGLI DEI nur leise nachklingt. Den Adel betrifft eine Welt, in der alle Lebensnotwendigkeit ihren glücklichsten

Ausdruck in den schönen Dingen findet, eine Welt, die ganz und gar geschaffen, ganz und gar Kultur, ganz und gar befriedete Ordnung ist. Das macht diese seltsame üppige Lust am Dekor aus, er ist tatsächlich ein Reichtum individueller Sinnlichkeit. Sie lässt eine Art von Individuum-Sein greifbar werden, das es als gesellschaftliches Verhältnis nicht gibt. Es ist eine ungeteilte, nicht teilbare Sinnlichkeit. Das ist denn auch ihr einziger, entscheidender Makel, dass sie eben nicht allgemein sein will, dass sie sich vom gemeinen sozialen Leben notwendig abheben muss.


Widergänger einer Kunstwelt


Noch auf einer anderen Ebene haben die Figuren etwas von Schauspielern. Sie bewegen sich im Dekor wie auf der Bühne, weil sie immer schon Rollen spielen. Der Mordkomplott und die Verschwörung der Lady Macbeth, das Familientreffen und der Mythos der Nibelungen, das Gemetzel an den SA-Horden und das Massaker an Etzels Hof. Martin als Dostojewskis Stawrogin und zugleich als zögerlicher Hamlet mit Sophie als Königin Mutter und Frederick als Claudius. Aschenbach (Helmut Griem) als Mephisto und das missbrauchte Kind als Gretchen. Diese Bezüge sind keine bedeutungsschweren Verweise, sondern ziehen eine weitere Spiegelungsebene ein. Mit ihr erscheinen die Figuren selbst wie Widergänger einer Kunstwelt. Tatsächlich sind sie Spiegelungen der großen Figurenentwürfe und dramatischen Szenen, die die europäische Literatur für das Böse gefunden hat. Statt auf einem allgemeinen Wissen um Psychologie gründet der Film seine Figuren auf den individuellen Prägungen, in denen die Kunst die psychischen Möglichkeiten des Menschen erkundet hat – um diese wiederum ins Verhältnis zu setzen zur Frage nach der allgemeinen Katastrophe der Geschichte. In diesen Spiegelungsebenen entfaltet der Film die Villa der Essenbecks durchaus als eine Innenwelt – aber nicht im Sinne des konventionellen Melodramas. Er entwirft einen Kosmos der Leidenschaften, der wie die Oper Verdis auf der Bühne in

La Fenice einer ganz und gar anderen Wirklichkeit als der des Zuschauers zugehört: der Wirklichkeit der Kunst.Die Schönheit des Dekors, die Schönheit der Menschen, der Dinge bildet gleichsam die Zone des Übergangs, in der die Welt der Figuren mit der Welt des Zuschauers kommuniziert, sich mit seinen Sinnen verbindet, um vor seinen Augen auseinanderzubrechen. Bei Visconti werde immer neu bewiesen, schreibt Hans Werner Henze, [...] dass im Erdrutsch unserer Zivilisation jeder in seinen Bereich egozentrischer Unzulänglichkeit eingeschlossen bleibt. [...] Spektakel des Negativen, die in unerhörter Weise das Wahre wollen, die Genauigkeit; da ist nichts unzulässig, nichts unzuträglich. Es kommen dann die großen Augenblicke des Schweigens, des Atemhaltens, wo ein Mensch aus dem Dekorativen heraustritt, wo er ‚seine kleinste Größe erreicht’, in der allein er noch der Wahrheit erreichbar scheint, in der Intimität, in der ihn wie ein schauriger Hall die Kälte des Jahrhunderts umgibt.13 

Fast jede der Figuren hat einen solchen Moment kleinster Größe: Joachim, Sophie, Konstantin, Frederick – auch Martin –, nur Aschenbach nicht. Auf den Zuschauer bezogen artikulieren diese Momente den Film als die Zeit, in der die Schönheit der Dinge sich eintrübt und zerfällt.



Literaturangaben und Anmerkungen
13 Henze, Hans Werner: Versuch über Visconti, in: Merkur, Nr.10, 1958, S. 63f. [^]

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